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Rasen mähen nachts um drei: Wie Polarnacht und Mitternachtssonne das Leben prägen

Von Olivia Malmström und Peter Marx


In der Nacht wurden die Pfarrersleute von Gesang geweckt. So etwas war noch nicht vorgekommen. Der Gesang drang unten vom Hof herauf. Die Sonne stand über der Erde; die Möwen waren erwacht; es war drei Uhr.

(Knut Hamsun, „Schwärmer“)



Einer kleinen, launischen Schräglage unseres Planeten im Verhältnis zur Sonne verdanken wir es, dass es am Äquator stets zwölf Stunden hell und zwölf Stunden dunkel ist, während die Nordkalotte im Winter gar nicht, im Sommer aber ununterbrochen von der Sonne beschienen wird. Für das Leben und Wohlbefinden von uns Erdenbürgern hat dieser Umstand Folgen. Im Winter führt der Lichtmangel bei sechs bis acht Prozent der Mitteleuropäer zu ernsthaften Beschwerden und Depressionen, die unter dem Begriff SAD (Seasonal Affective Disorder oder Saisonal Abhängige Depression) zusammengefasst werden. Zu den verbreiteten Symptomen gehören Müdigkeit und Antriebslosigkeit, Heißhunger auf Kohlenhydrate und Süßes, Konzentrationsmangel, Unruhe und sexuelle Unlust.


In welchem Maße unsere Körperfunktionen vom Tag-Nacht-Rhythmus und von der Menge des aufgenommenen Lichtes beeinflusst werden, haben zahlreiche Forschungen der letzten Jahre eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Im Winter kann die Tageslichtstärke bei nur 1.000 Lux liegen, an einem schönen Sommertag aber zwischen 10.000 und 100.000 Lux variieren. Lichtkuren, bei denen Patienten über einen längeren Zeitraum täglich ein bis zwei Stunden einer Lichtquelle von beispielsweise 10.000 Lux ausgesetzt werden, finden ihren Einsatz gegen Winter­depressionen aber auch nach Knochenbrüchen, gegen Schuppenflechte oder überflüssige Pfunde. Ein wichtiges Anwendungsgebiet ist auch die Behandlung von Schlafstörungen und Störungen der „inneren Uhr“ (z.B. durch Jetlag oder Schichtarbeit).


Diese innere Uhr hat sich im Laufe des Evolutionsprozesses so „eingestellt, dass sie eine möglichst optimale Anpassung an dieunterschiedlichen Lebensbedingungen im Laufe des Tages und Jahres gewährleistet. Nachts war es für den Menschen am günstigsten zu schlafen, um Energie zu sparen und sich keinen Gefahren auszusetzen. Die Körpertemperatur sinkt nachts ab, steigt mit dem Morgengrauen aber stetig wieder an; der Körper bereitet sich auf die Erfordernisse des Tages vor. Es gibt kaum eine Körperfunktion, die nicht diesem Tag-Nacht-Rhythmus unterliegt, der für uns so selbstverständlich ist, dass wir ihn höchstens wahrnehmen, wenn er durch Jetlag oder eine Nachtschicht gleichwelcher Ursache durcheinandergeraten ist.


Gesteuert wird der chronobiologische Ablauf dabei weitestgehend von der Sonne in ihrem 24-Stunden-Rhythmus und eben nicht durch eine davon unabhängige „innere“ Uhr. Wer sich sowohl künstlichen Zeitmessern als auch dem Sonnenlicht entzieht, dessen Biorhythmus pendelt sich auf bis zu 50 Stunden ein. Zwischen Aufstehen und Frühstück vergehen dann leicht 6 Stunden, die man subjektiv vielleicht als gerade einmal eine halbe Stunde wahrnimmt. Eine wichtige Schlüsselfunktion kommt physiologisch dabei dem in der Zirbeldrüse gebildeten Hormon Melatonin zu, dessen Ausschüttung durch Dunkelheit angeregt und durch Licht unterdrückt wird. Melatonin wirkt schlaffördernd und stimmungsdrückend. Die Gleichung viel Licht gleich wenig Melatonin ist also eine mögliche Erklärung für die durch die permanente Lichteinstrahlung im nordskandinavischen Sommer ausgelöste euphorische Stimmung und das geringe Schlafbedürfnis. Einige Bewohner dieser Region, die dann doch gerne mal ihren Schlaf nachholen möchten, schwören daher tatsächlich auf die Einnahme synthetischen Melatonins.


Ein weißes Ren-Opfer für die Sonnengöttin Beaivi

Die Vorstellung, dass die Sonne für den Menschen eine wichtige Rolle spielt, ist uralt. Auf Samisch heißt die Sonne „Beaivi“. Beaivi ist auch der Name der Sonnengöttin, die eine zentrale Rolle in der samischen Mythologie einnimmt. Früher hat man ihr jedes Jahr ein weißes Ren geopfert, um sicherzustellen, dass die Sonne zurückkommen würde. Auch brachte man Beaivi Opfergaben dar und richtete Gebete an sie, um für die Gesundheit schwacher oder kranker Menschen zu bitten, denn man fürchtete, dass diese Menschen die Polarnacht ohne den Beistand der Sonnengöttin nicht überleben würden. Noch heute steht das Mittsommerfest in der Tradition des Beaivi-Kults, denn man feierte die Göttin auch zur Sommersonnenwende.


Euphorie im Sommer, Depression im Winter

Doch nicht alle werden gleichermaßen durch das Sonnenlicht beeinflusst. Die Studentin Emmy Pettersson Daniels aus Kalix, Nordschweden, etwa beschreibt ihre Empfindungen folgendermaßen: „Ich selbst reagiere auf den Mangel an Sonnenlicht während der Polarnacht viel unempfindlicher als andere Verwandte. Auch die Mitternachtssonne erlebe ich eher als herrliches Phänomen, ich fühle mich dann frei und genieße die langen Tage.“ Bei Schlafmangel in der Saison der Mitternachtssonne rät sie vor allem zu dunklen, lichtundurchlässigen Vorhängen. Während der Polarnacht aber, berichtet sie, geraten tatsächlich viele in eine depressive Stimmung.

Sie genieße die gemütlichen, immer dunkler werdenden Herbstabende. „Im Winter kann es allerdings schon hart werden. Durch die wenigen Sonnenstunden werden die Tage so kurz, für viele Leute ist das berufsbedingt anstrengend. Aber man lernt, sich an diesen ja gut berechenbaren Rhythmus anzupassen.“


Auch Ove Rolandsen schwärmte auf seine Art.

Man sollte es bei einem Mann in seinem Alter kaum für möglich halten,

aber bisweilen hörte man in wahrhaftig nachts in seinem

Zimmer singen und Gitarre spielen.


Auch wenn der soziale Zwang zur Synchronisierung von Schul- und Erwerbsarbeitszeit vor dem Norden nicht Halt gemacht hat: Die Uhren ticken im Nordlandsommer tatsächlich auch heute noch spürbar anders. Für einen Nordschweden ist es völlig normal, nachts um zwei seinen Rasen zu mähen oder seinem Häuschen einen frischen Anstrich zu verpassen. Das Schlafbedürfnis sinkt bei den meisten dramatisch, man steckt viel eher voller Energie und Lebensfreude. Und auch im Winter ist ein gewisses Außer-Takt-Sein normal. Wenn es ohnehin kaum hell wird am Tag, kann man auch gleich die Nacht zum Tage machen und nach Mitternacht noch Freunde besuchen.


Inspiration für die Künste

Der große norwegische Erzähler Knut Hamsun hat diese Stimmung in seinen wunderbaren Nordlandromanen immer wieder beschworen und die eigentümliche Verrücktheit der Menschen zur Mittsommerzeit, ihre rauschhafte Lebens- und Liebeslust, ihre Schwärmerei beschrieben und unsterblich gemacht.

Immer wieder haben die faszinierenden Naturphänomene ‚Mitternachtssonne‘ und ‚Polarnacht‘ Bücher, Filme, Musik und Kunst inspiriert. Im Jahr 2016 eroberte zum Beispiel die Krimi-Serie „Mitternachtssonne“ eine große Zuschauergemeinde. Darin arbeiten eine französische Polizistin und ein schwedischer Polizist zusammen, um einen Mord aufzuklären. Die Serie spielt in Kiruna und zeigt neben der schönen Landschaft des nördlichen Schwedens auch die Mitternachtssonne und bietet Einblick in die Kultur der Sami.


Die „Polarnacht“, also der Gegenpol, hat dem Kinderbuch von Sunniva Relling Berg seinen Namen gegeben. Dieses handelt von dem 16 Jahre alten Ilias und seiner neun Jahre alten Schwester Amira und ihrem gemeinsamen Ausbrechen aus einer Flüchtlingsunterkunft. Der Roman erzählt von ihrer Reise in der kalten Nacht unter dem Nordlicht.


Tourismus: Lichtduschen im Sommer wie im Winter

Auch an der Wirtschaft gehen die starken saisonalen Lichtschwankungen nicht spurlos vorbei. Für den Tourismus bieten sie mit Sicherheit Potential. Der optische Zauber der Mitternachtssonne ist schon jetzt ein Verkaufsschlager, kaum ausgeschöpft hingegen die Vorstellung einer 24-Stunden Lichtdusche, die den Körper berauscht, die Sinne belebt, die Libido steigert und den Verstand ausschaltet. Es ist also wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Fitnessgeneration, immer auf der Suche nach allem, was fit- und anmacht, den Norden für sich entdeckt.


Das Phänomen der Nordlichter hingegen wird touristisch inzwischen weidlich ausgenutzt. In der Nähe der Pole kann man bekanntlich mit etwas Glück und gutem Timing sehr imposante grüne, blaue oder rote Lichtwellen am Himmel sehen Dieses markante Spektakel ist das Resultat des Sonnenwindes, der in Kontakt mit der Erdatmosphäre eine elektromagnetische Strahlung erzeugt. Das Phänomen kann in der ganzen Nordkalotte den Himmel verzaubern, aber es gibt Orte, an denen die Häufigkeit besonders hoch ist.

In Schweden liegt einer der besten Beobachtungsplätze im kleinen Ort Abisko. Jedes Jahr strömen Zehntausende von Menschen dorthin, um das mythische Nordlicht zu erleben. Denn es reicht nicht aus, an einem Winterabend weit im Norden zu sein, um es zu sehen. Auch muss ein Ort frei von Lichtverschmutzung sein und die Wetterbedingungen müssen stimmen. Abisko erfüllt diese Kriterien und ist deshalb ein besonders geeigneter Platz, um Polarlichter zu bestaunen. Doch kehren wir zum Ende noch einmal zur Mitternachtssonne zurück, die den Sommer im Norden so einzigartig macht. Niemand hat diese schwebenden Wochen schöner beschrieben als Knut Hamsun, und wer vielleicht die warmen Monate nicht in den höheren Breitengraden verbringen kann, dem sei nur empfohlen, auf eine seiner Erzählungen zurückzugreifen. „Die Schwärmer“ zum Beispiel: „Nun kamen Tage, an denen die Leute auf der Bärenhaut lagen: nur zur Kurzweil fischten sie noch in den sonnenwarmen Nächten am heimatlichen Strand.“

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