„Let it grow!“ – Der eigene Garten als Ressource für den Artenschutz in Linnés Tradition
- Emma Johansson
- vor 7 Tagen
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Plötzlich waren sie überall – Fichtensprossen, Glocken-Enzian und Waldhyazinthen, um nur einige zu nennen. Anton Härder staunte über die Samen, die sich seit Jahrhunderten im Boden von Råshult in Småland versteckt hatten. Hier kümmert er sich um Linnés Råshult, den Hof, auf dem Carl von Linné geboren wurde. Ziel ist es, die Landschaft so wiederherzustellen, wie sie im 18. Jahrhundert aussah, als der berühmte Botaniker lebte. Die Herausforderungen sind vielfältig, nicht zuletzt wegen des Mangels an historischen Quellen. So wird die 60 Hektar große Fläche heute wesentlich sparsamer gedüngt, um das Erscheinungsbild des 18. Jahrhunderts möglichst authentisch wiederherzustellen. Unter

den richtigen Bedingungen gedeiht eine fast vergessene Wiesenflora. Mit der plötzlichen Rückkehr der Pflanzen kommen auch Solitärbienen, Schmetterlinge und verschiedene Käfer in Scharen.
Viele Menschen denken wahrscheinlich an Firmen wie Husqvarna oder Stiga, wenn sie an Gärten und Schweden denken, also an Gerätschaften zur Gartenpflege. Es gibt aber auch eine ausgeprägte schwedische Kultur, der Natur weitgehend ihren Lauf zu lassen und sogenannte „Naturgärten“ anzulegen. Mit der zunehmenden Bebauung und Intensivierung der Landwirtschaft verschwinden immer mehr natürliche Lebensräume, einer der Gründe für das erschreckende Insektensterben der letzten Jahre. Naturgärten bieten eine Möglichkeit, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Sie sind kleine, aber wirkungsvolle Ökosysteme, in denen Pflanzen, Insekten, Vögel und andere Tiere einen geschützten Lebensraum finden. Im Gegensatz zu klassischen Gärten, die oft auf exotische Pflanzen und einen kurz geschnittenen Rasen setzen, zeichnen sich Naturgärten durch heimische Pflanzen, Wildblumenwiesen, strukturreiche Landschaftselemente und eine naturnahe Pflege aus.
Bedrohte Arten finden Schutz
Ein solcher Garten trägt nicht nur zur Artenvielfalt bei, sondern hat auch ökologische und praktische Vorteile. Heimische Pflanzen sind z.B. an das hiesige Klima angepasst und brauchen nicht gewässert zu werden. Durch tiefwurzelnde Pflanzen kann Bodenerosion verhindert werden, natürliche Wasserspeicher entstehen und der Verzicht auf chemische Dünger und Pestizide sorgt dafür, dass ein stabiles ökologisches Gleichgewicht spezialneu geschaffen wird. Insekten wie Bienen und Schmetterlinge, die auf bestimmte Pflanzenarten angewiesen sind, profitieren besonders von einem naturnah gestalteten Garten. In Schweden gibt es etwa 300 Wildbienenarten. Davon stehen ungefähr ein Drittel, also etwa 100 Arten, auf der nationalen Roten Liste und gelten somit als bedroht. In Deutschland steht sogar mehr als die Hälfte der 600 Wildbienenarten auf der roten Liste, etwa 30 Arten sind vom Aussterben bedroht. Naturgärten können ihnen die Ressourcen bieten, die sie zum Überleben brauchen. Auch Vögel, Igel und Amphibien finden hier Unterschlupf und Nahrung. Viele vom Aussterben bedrohte Arten wie Sandbienen und Mauersegler haben in der modernen Agrarlandschaft einen schweren Stand, können aber in einem Naturgarten Zuflucht finden.

Ein Wandel in zwei Ländern
„Dabei muss ein Naturgarten nicht kompliziert oder teuer sein“, sagt Uta Schulz, interkulturelle Trainerin für deutsche und schwedische Unternehmen – und überzeugte Naturgartenfreundin. „Ganz im Gegenteil. Mit einigen gezielten Maßnahmen kann jeder Gartenbesitzer einen Beitrag zur Biodiversität leisten und Arbeit, Zeit, Geld sowie Ressourcen sparen“, ist die Hamburgerin überzeugt. „Auch in Deutschland gibt es zahlreiche Initiativen, die das naturnahe Gärtnern fördern und den Menschen genau das wundervolle Lebensgefühl schenken, das wir in Schweden so lieben. Vor die Haustür treten und Natur erleben. Das tut uns Menschen nachgewiesener Maßen gut. Und natürlich auch Mitarbeitenden in Unternehmen. Egal ob Firmengelände, privater Garten, Terrasse oder Balkon für die Pausen. Natur tut gut. Und ist gleichzeitig ein Beitrag für den Arten- und Naturschutz. Jeder Quadratmeter zählt.“ Naturnah angelegte Außenbereiche haben auch nichts mit Unordnung zu tun, sondern integrieren optisch ansprechend Lebensräume wie ungestörte Ecken mit Wildblumen, Totholzhaufen oder kleine Teiche.
Ein Naturgarten ist nur so gut wie seine Pflanzen. Heimische Gewächse sind perfekt an die lokalen Bedingungen angepasst und bieten Nahrung und Lebensraum für einheimische Tierarten. 90 % der blattfressenden Insekten sind auf einheimische Pflanzen spezialisiert. Für Schmetterlingsraupen etwa muss es eben oft eine ganz spezifische Pflanzensorte einer bestimmten Region sein, an die sie sich über Jahrhunderte angepasst hat. In Deutschland ist das Bewusstsein für die Bedeutung von Wildpflanzen in den letzten Jahren gestiegen. Umweltorganisationen wie der NABU oder der BUND setzen sich verstärkt für die Förderung heimischer Pflanzen ein. Trotzdem sind diese in vielen Gartencentern schwer zu finden, da dort meist exotische Zierpflanzen mit auffälligen Blüten dominieren. In Schweden sieht die Situation anders aus. Heimische Pflanzen sind nicht nur verbreiteter, sondern auch gesellschaftlich stärker akzeptiert. Hier spielen traditionelle Nutzung und ein tief verwurzeltes Naturbewusstsein eine große Rolle. Viele Menschen wissen um den Wert wilder Pflanzen und setzen sie nicht nur in Gärten ein, sondern auch in der Küche oder für Heilzwecke. In ländlichen Gegenden werden Wildkräuter wie Mädesüß oder Schafgarbe traditionell für Tee oder Naturmedizin genutzt, während in Deutschland Wildpflanzen oft als „Unkraut“ angesehen werden.
Das Interesse wächst

Mehr und mehr Menschen entdecken, dass Naturgärten nicht nur für die Tierwelt von Vorteil sind, sondern auch pflegeleicht und das ganze Jahr über ästhetisch ansprechend. „Das Interesse an Naturgärten wächst in Schweden und in Deutschland“, beobachtet der Biologe Isak Isaksson von der Schwedischen Naturschutzgesellschaft. Eine mögliche Gemeinsamkeit sei, dass beide Länder eine starke Kleingartentradition haben, die in der Vergangenheit die Ansichten über die Gartengestaltung beeinflusst haben könnte. „Gleichzeitig haben beide Länder ein starkes Engagement für Bestäuber und natürliche Umgebungen, mit vielen inspirierenden Initiativen in Deutschland in Bezug auf städtische Grünflächen und Wildbienen“, sagt Isaksson.
Die Unterstützung von Naturgärten durch den Staat oder Umweltorganisationen unterscheidet sich in Deutschland und Schweden erheblich. In Deutschland gibt es zwar zahlreiche Umweltverbände, die sich für naturnahe Gärten einsetzen, doch eine flächendeckende staatliche Förderung existiert nicht. Kommunale Programme bieten manchmal Zuschüsse für naturnahe Gärten oder Blühflächen, aber diese Maßnahmen sind meist lokal begrenzt. In Schweden hingegen ist der Schutz der Natur fester Bestandteil der Politik. Das sogenannte „Allemansrätten“ (Jedermannsrecht) garantiert allen Menschen den freien Zugang zur Natur und verpflichtet gleichzeitig zu einem verantwortungsvollen Umgang mit ihr. Diese tief verankerte Naturverbundenheit zeigt sich auch in der Gartenkultur. Staatliche Institutionen wie das „Naturvårdsverket“ (die Umweltschutzbehörde) setzen sich aktiv für Biodiversität ein, während Umweltverbände wie „Svenska Naturskyddsföreningen” (die Schwedische Naturschutzgesellschaft) gezielt Maßnahmen zum Schutz von Wildpflanzen und Naturgärten fördern.
Die längste Blumenwiese der Welt
Die schwedische Umweltschutzbehörde und die Bezirksverwaltungen sind seit 2024 für die Vergabe von Zuschüssen an Privatpersonen zuständig, die Wiesen und Weiden wiederherstellen wollen. Ziel ist es, Lebensräume für bedrohte Pflanzen- und Tierarten wiederherzustellen und das „biologische Erbe“ für künftige Generationen zu erhalten. Einige Akteure sind sogar noch einen Schritt weiter gegangen. Die schwedische Naturschutzgesellschaft arbeitet seit 2022 an dem Projekt „Längste Blumenwiese der Welt“, bei dem Flächen entlang schwedischer Straßen bepflanzt werden, um die Artenvielfalt zu fördern. Freiwillige säen Wiesenblumen aus, entfernen invasive Arten und mähen die Straßenränder erst nach der Blüte. Ziel ist es, eine 1.000 km lange zusammenhängende Strecke als längste Wiese der Welt ins Guinness-Buch der Rekorde zu bringen. Die Fortschritte können online in Echtzeit verfolgt werden und 2026 wird sich zeigen, ob das Ziel erreicht wurde.

Gesucht: Der hässlichste Rasen
Viele Schweden kümmern sich um ihre Gärten, aber es gibt auch Beweise für das Gegenteil. Gotland, Schwedens größte Insel, hat seit Jahren Probleme mit niedrigem Grundwasserspiegel und Dürreperioden in den Sommermonaten. Vor dem Sommer 2022 war die Situation besonders akut und die Region sah sich gezwungen, die Bevölkerung zum Wassersparen aufzurufen. Dies führte zur Einführung des Wettbewerbs „Gotlands hässlichster Rasen“, bei dem es darum ging, den Garten im Sommer überhaupt nicht zu bewässern. Der Wettbewerb erregte große Aufmerksamkeit und Medien wie die BBC und The Guardian berichteten international über die Klimainitiative. Das Ergebnis? Der Wasserverbrauch ging deutlich zurück, da die Nachbarn versuchten, sich gegenseitig mit hässlichen Rasenflächen zu übertrumpfen, und das Bewässerungsverbot wurde Wochen früher als geplant aufgehoben. Der Wettbewerb besteht weiterhin, am Ende eines jeden Sommers wird ein Sieger gekürt. Der Preis ist eine fachkundige Beratung, wie der hässliche Garten verbessert werden kann.
Kulturerbe für kommende Generationen
Für Anton Härder von Linnés Råshult ist der Naturgarten ein wichtiges Kulturerbe für künftige Generationen. Das Land so zu bewirtschaften wie früher, ohne moderne Geräte, kann harte Arbeit sein, aber es lohnt sich. Besucher aus aller Welt kommen auf den Hof in Småland und staunen, wie schön die Landschaft und die Natur sein können. Linnés Råshult ist derzeit Teil einer Machbarkeitsstudie, um als Weltkulturerbe anerkannt zu werden. Damit könnte Carl von Linnés botanischer Traum – und die Naturgärten – für immer erhalten bleiben.

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