Wie Graphic Novels und Comics die schwedische Literaturlandschaft prägen
- Emma Johansson
- vor 11 Minuten
- 6 Min. Lesezeit

Der Autor Mats Jonsson hatte sich schon immer über diese geheimnisvolle verschlossene Truhe seines Großvaters gewundert. Mit diesem wohlbehüteten Geheimnis lässt er die Geschichte beginnen. „När vi var samer“ (dt. Übersetzung: Als wir Sami waren) ist eine Graphic Novel, in der der Autor den Leser mit seinen Zeichnungen auf eine Reise durch seine tragische Familiengeschichte mitnimmt.
Von den ersten Höhlenmalereien bis zu den digitalen Bildschirmen von heute haben Comics schon immer auf einzigartige Weise Geschichten erzählt. Für Mats Jonsson war das Format besonders erfolgreich, denn seine Graphic Novel wurde für den Augustpreis 2021 nominiert, die renommierteste Auszeichnung für neu veröffentlichte Bücher in Schweden. Es war das erste Mal in der Geschichte des Preises, dass eine Graphic Novel nominiert wurde. Und das blieb nicht unbeachtet: KritikerInnen bezeichneten die Nominierung als eine „Beleidigung“ und meinten, Graphic Novels enthalten zu wenig Text. Andere waren der Meinung, dass Graphic Novels endlich die Anerkennung erhielten, auf die sie in Schweden seit Jahrzehnten gewartet hatten.

Ein unerwarteter Erfolg
Doch woher stammt eigentlich dieses mittlerweile kaum aus den Buchläden wegzudenkende Genre? Man sagt, dass die Zeichentrickkultur im Westen mit „The Yellow Kid“ in der Zeitschrift New York World im Jahr 1896 begann. Es handelte sich um eine Figur, die von den Redakteuren nur eingeführt wurde, um ihre gelbe Farbe zu testen. „The Yellow Kid“ war jedoch ein unerwarteter Erfolg, insbesondere bei Menschen mit Migrationsgeschichte mit geringen Englischkenntnissen. Die Cartoons setzten auf einfachen visuellen Humor und enthielten ein Minimum an Text. Genau das waren die ersten Cartoons oder „Comics“ – ein paar Cartoon-Quadrate ohne Sprechblasen. Noch heute wird der Begriff für ein regelmäßig erscheinendes Magazin verwendet, das in jeder Ausgabe viele verschiedene Kurzgeschichten enthält. Graphic Novels dagegen sind in den meisten Fällen abgeschlossene Bücher, die eigenständige Geschichten erzählen.
Comics - nur für Kinder?
In Schweden dauerte es noch etwas, bis das Genre ankam: „91:an“ wurde erstmals 1932 gezeichnet und ist damit die älteste schwedische Comicfigur, die heute noch veröffentlicht wird. 91:an Karlsson ist ein wehrpflichtiger Soldat, der wegen seiner Nemesis 87:an oft in Schwierigkeiten gerät. Seit mehr als neun Jahrzehnten treiben die beiden ihr Unwesen im Regiment und kämpfen um die schöne Elvira. Damals, Anfang des 20. Jahrhunderts, wurden Comics von der ganzen Familie gelesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Format jedoch stark „kindgerecht“ angepasst. Die großen amerikanischen Hits Donald Duck, Das Phantom und Superman kamen nach Schweden und waren ein voller Erfolg. Nie zuvor hatten so viele Kinder und Jugendliche so interessiert Seite um Seite gelesen. Vor allem waren Comics leicht zugänglich und billig - ein Erfolgsrezept für die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen.

Währenddessen machten sich die Eltern Sorgen darüber, dass die Kinder durch die Comics das Interesse an „echten“ Büchern und längeren Texten verlieren würden. Die Debatte ging so weit, dass die schärfsten KritikerInnen eine Zensur vorschlugen, um die Hefte ganz zu verbieten. Comics wurden als „minderwertige Literatur“ bezeichnet, und sogar das Wort „Comic“ selbst wurde zum Schimpfwort. Die moralische Debatte und das „Kinderstigma“ führten zu einem Stillstand der Comics. Erst in den 1970er Jahren gelang der nächste große Durchbruch. Es waren die europäischen Graphic Novels Tim und Struppi, Lucky Luke und Asterix und Obelix, die einer neuen Generation die Augen öffneten. Auch Erwachsene begannen sich wieder für Comics zu interessieren – in Schweden wurde Joakim Pirinen mit seinen humorvollen Graphic Novels für ein älteres Publikum zum Pionier.
Wie man Comiczeichner wird

Wer in Schweden in die Fußstapfen bekannter ComiczeichnerInnen treten möchte, wird in speziellen Comic-Programmen fündig. Eine der bekanntesten ist die Serieskolan in Malmö, die zwei einjährige Programme für ComiczeichnerInnen anbietet. Laut Fredrik Strömberg, einem der Lehrer, hat die Schule weit mehr Bewerber als Plätze. Der größte Zuwachs ist bei den weiblichen Comiczeichnern zu verzeichnen.
Dies könnte an einer der bekanntesten Schülerinnen der Schule liegen, Liv Strömquist, eine der erfolgreichsten schwedischen Comiczeichnerinnen. Liv Strömquist begann mit selbstverlegten Comics für eine kleine Leserschaft, aber heute ist sie mit Fernsehserien, Theateraufführungen und Podcasts schon eine Berühmtheit. Strömquist hat ihr eigenes Genre entwickelt, eine einzigartige Kombination aus Comic, wissenschaftlicher Recherche, politischer Kolumne und visueller Satire. Viele ihrer Werke befassen sich mit Feminismus und Sozialkritik und wurden schon in 16 Sprachen übersetzt. Auch in Deutschland erfreuen ihre Werke sich großer Beliebtheit. Im Jungen Schauspiel Hamburg gibt es aktuelle sogar eine Inszenierung ihres Werkes „Im Spiegelsaal“.
Viele schwedische Comics der letzten zehn Jahre behandeln sozialrealistische oder politische Themen. Das ist etwas, das die schwedische Comic-Kultur wirklich ausmache, meint der schwedische Journalist, Autor und Präsident des Comic-Archives, Fredrik Strömberg, und liege daran, dass Schweden ein relativ kleines Sprachgebiet ist. Es ist deshalb einfacher und schneller möglich, Comics zu schreiben, die auf persönlichen Erfahrungen basieren. Das hat dazu geführt, dass autobiographische Comics in Schweden viel häufiger veröffentlicht werden, als in anderen Ländern mit einer stärkeren Comic-Kultur wie den USA, Japan oder Frankreich. Beispiele für diese gesellschaftsnahen Themen sind Werke von Sissel Gustafsson („Stackars pappa“ über das Thema Alkoholismus), Julia Hansen („Det växer“ über das Thema Abtreibung) oder Daria Bogdanska („Wage Slaves“ über das Thema Schwarzarbeit).
Die Zukunft sieht rosig und digital aus
Die Zukunft der Graphic Novels wird jedoch weniger autobiografisch sein, glaubt zumindest Fredrik Strömberg. Unter den neuen Studenten der Malmö School of Comics dominiert inzwischen die Fiktion. Viele träumen davon, Comics in den Genres Fantasy, Science Fiction oder Horror zu zeichnen. Ein weiterer Trend sei, dass Comics aus den Zeitungen verschwinden und stattdessen online veröffentlicht werden. Diese so genannten „Webcomics“ sind die bei weitem am schnellsten wachsende Form von Comics. Dies hat auch Vorteile, da viele neue Zeichner jetzt wöchentlich oder monatlich Geld durch Abonnements verdienen können. Die südkoreanische Website Tapas ist mit über 10 Millionen Nutzern, vor allem Jugendlichen und jungen Erwachsenen, einer der größten Akteure.
Autor Mats Jonsson, der für „Als wir Sami waren“ für den August-Preis nominiert war, ging bei der Preisverleihung leer aus. Für ihn war die Nominierung jedoch Beweis genug, wie sehr sich Comics in Schweden weiterentwickelt haben. Seine neueste Graphic Novel „Stinas Jojk" setzt das Thema der samischen Geschichte fort. Vielleicht haben sich auch die schärfsten Kritiker endlich an das Format gewöhnt – die neuesten Rezensionen bezeichneten seine Graphic Novel als „meisterhaft“.
Aktuelle Graphic Novels aus Schweden – 3 Tipps der Redaktion:

1. Portal von Edith Hammar (2023)
Diese Graphic Novel erzählt die Geschichte von Elia, einer jungen Person im heutigen Finnland, die eine geheimnisvolle Verbindung zur Vergangenheit entdeckt. Während Elia zwischen der Gegenwart und den 1950er Jahren hin- und herwechselt, werden Themen wie queere Identität und Gemeinschaft behandelt. Hammar kombiniert dabei eindrucksvolle Schwarz-Weiß-Illustrationen mit einer tiefgehenden Handlung.

2. Swedish Machines, Lonely Places von Simon Stålenhag (2024)
Zwei Jugendliche, ein Sommer in den Nullerjahren in Schweden. Linus hat gerade seinen Abschluss an einem Stockholmer Musikgymnasium gemacht, als er Valter wiedertrifft, einen alten Schulfreund. Valter nimmt Linus mit auf seine Expeditionen in die Sperrzone Svartlöten: ein riesiges Ödland, das entstand, als eine gewaltige Explosion nach einem fehlgeschlagenen Waffentest im Juli 1980 Zeit und Raum auseinanderriss. Gigantische, in der Landschaft zerstreute Architekturen beherbergen Artefakte mit rätselhaften Eigenschaften. Und während sie gemeinsam die mysteriöse Zone erforschen und die verwaisten Maschinen plündern, kochen die Gefühle unter der Oberfläche hoch. Am 28. Mai erscheint eine deutsche Übersetzung.

3. Buff Soul von Moa Romanova (Engl. Ausgabe erscheint August 2025)
Wie verhindert man, dass sich die Geschichte wiederholt, und ist es möglich, die Menschen, die man liebt, vor sich selbst zu schützen? Als die Cartoonistin Moa Romanova ihre beste Rockstar-Freundin auf US-Tournee begleitet, gerät ihr Leben schnell ins Chaos, als ein Jugendtrauma sie heimsucht. „Buff Soul“ setzt sich in einem ausgelassenen Roadtrip-Abenteuer mit Sucht, Freundschaft und Verlust auseinander – mit Speed-Verkauf, Knochenbrüchen, massiven Katern, Drogenentzug, der Faust in der besten Freundin und dem Schießen in der Wüste. Was als wahnsinnig komischer, hedonistischer Roadtrip im Geiste von „Ananas Express“ beginnt, nimmt eine düstere Wendung, als ihre beste Freundin verschwindet. Dieses Ereignis weckt Erinnerungen an ein Jugendtrauma, mit dem sie sich noch nicht auseinandergesetzt hatte, und führt Romanova dazu, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, wie weit sie ihre Selbstzerstörung schon getrieben hat.
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