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Die Konsenskultur - Öffentliche Debatten in Schweden

Egal ob am Arbeitsplatz oder zu Hause – die Schweden suchen immer nach Übereinkunft. Um die schwedische Debattenkultur zu verstehen, ist der Konsensbegriff von zentraler Bedeutung. Eine Theorie besagt, dass die historischen Wurzeln dieser Konsenskultur mit der Tatsache zu tun haben, dass es in Schweden im Winter sehr kalt ist. Konflikte unter Familien oder Gemeinden konnten deswegen schnell tödlich sein, wenn der Zugang zu Lebensmitteln, besonders im Winter, sehr begrenzt war. Wer gegen den Willen der Gemeinschaft agierte, riskierte dadurch, einen hohen Preis zu bezahlen: Ächtung - und im schlimmsten Fall den Hungertod. Klingt grausam? Na ja, es ist wie gesagt nur eine Theorie. Und heutzutage riskiert niemand, gleich zu verhungern, wenn er oder sie in der schwedischen Öffentlichkeit eine abweichende Meinung äußert.       

Die Konsenskultur hat offensichtlich große Vorteile: statt von ewigem Streiten geschwächt zu sein, zum Beispiel zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, gehört Schweden zu den Ländern mit den wenigsten Streiktagen in Europa. Genauso sieht es bei schwierigen politischen Entscheidungen aus: Sobald ein Beschluss mehrheitlich gefasst und bekannt gemacht ist, endet in der Regel die Diskussion auch in der Opposition. So konnten viele unpopuläre, jedoch notwendige Reformen in den neunziger Jahren nach der großen Immobilienkrise wegen des Konsenses zwischen den Sozialdemokraten und den liberalkonservativen Parteien durchgeführt werden.


Konsens macht stark

Die Konsenskultur prägt natürlich auch die schwedischen Medien, was umgekehrt wiederum die Debattenkultur beeinflusst. Im Vergleich zu Frankreich, England oder Dänemark, wo Journalisten häufig eine rechthaberische Rolle gegenüber den Machthabern spielen, neigt das Temperament der schwedischen Redaktionen eher zum Ausgleich. Wenn die öffentliche Debatte zu hitzig wird, ist das Ziel öfter Abkühlung als weitere Befeuerung. Das Konfliktniveau in der Gesellschaft darf nicht zu hoch werden, es entsteht eine Art „Systemloyalität“, die die schwedische Debattenkultur prägt.

Soziale Medien haben unterdessen, wie in Deutschland, das Problem von „hate speech“ auch in Schweden auf die Tagesordnung gesetzt. Hier ist die Gesellschaft noch in einer Orientierungsphase: Es gibt besondere Gesetze gegen Hetze, aber eine klare Praxis, die eindeutig regelt, was man in der Öffentlichkeit der sozialen Medien sagen darf, beziehungsweise nicht darf, existiert noch nicht.       

 

Einheitskultur birgt auch Gefahren

Gibt es denn keine Nachteile mit der Konsens - beziehungsweise Debattenkultur in Schweden? Doch. Wenn sich zu einem Thema eine Hauptauffassung gebildet hat, werden fast alle die neue Position gleichzeitig einnehmen – alles andere wäre ja ein Verbrechen gegen den Konsens.

Dann eine konträre Meinung zu vertreten, kann sehr riskant sein – denn es dürfen nur so oder so viele Auffassungen gleichzeitig in der Öffentlichkeit existieren. Und das kann gefährliche Folgen haben. Das deutlichste Beispiel in den letzten Jahren ist die Migrationsfrage. Als die nationalistische Partei „Sverigedemokraterna“ 2010 ins Parlament eingezogen war, wurden alle Voraussetzungen für eine rationale und sachliche Diskussion über die Migration zerstört. Legitime Fragen zu Kosten und Kapazitäten wurden fast immer von den anderen Parteien, und leider auch von den Journalisten als Rassismus gebrandmarkt. Die Bilanz? Die Schwedendemokraten sind jetzt fast so groß wie die Sozialdemokraten.


Initiativen beleben die Debattenkultur

Aber die schwedische Debattenkultur enthält auch Silberstreifen, die geradezu ein Vorbild für demokratische Meinungsbildung sein können: So findet jeden Sommer in Almedalen auf Visby die „Politikerwoche“ statt. Politiker, Unternehmen, Kommunen und Interesseorganisationen aller Art – sie sind alle hier und geben alles, um mit guten Argumenten ihre Botschaft zu verbreiten. Für Privatpersonen bietet diese Woche einzigartige Möglichkeiten, Spitzenpolitiker und Organisationen zu treffen. Inzwischen haben auch Dänemark und Norwegen ihre eigenen Politikerwochen: „Folkemøde“ auf der Insel Bornholm beziehungsweise „Arendalsuka“.       


Ein anderes Beispiel: 2016 wurde „Kvartal“ gegründet, das sich „Schwedens kleinstes Medienhaus“ nennt und eine unabhängige „Debattenplattform für Erwachsene“ sein will. Ausführliche Artikel und Essays über Themen wie Migration, Kultur, die EU oder Chinas Rolle in der Welt geben regelmäßig gut durchdachte Hintergrundinformationen. Die Hauptfinanzierung kommt aus Privatspenden und das Interesse für „Kvartal“ wächst stetig.

Auch „Axxess Publishing“ gehört in dieses Bild. Seit 2002 erscheint das „Axxess Magasin“, eine Zeitschrift mit Essays und Artikeln über Politik, Kultur, Geschichte und Rezensionen der neusten internationalen Fachliteratur. „Axxess TV“ folgte 2006 und sendet Dokumentationen, Interviews mit Autoren und Forschern und Beiträge zu aktuellen Angelegenheiten. Die publizistische Idee ist, hochqualitativen Inhalt zu Themen anzubieten, die die kommerziellen Fernsehkanäle nicht senden. Axxess ist jedes Jahr auf der großen Buchmesse in Göteborg präsent, um Leser zu treffen und Autoren zu interviewen. Alles wird durch die Finanzierung der Axel und Margaret Ax:son Johnsonsstiftung ermöglicht.

Die Art, wie in Schweden öffentliche Themen diskutiert und verhandelt werden, ist bis heute stark von der jahrhundertealten Konsenskultur geprägt. Das hat manches Angenehme und Positive, birgt aber die Gefahr, dass notwendige Auseinandersetzungen nicht mit der erforderlichen Schärfe und Tiefe geführt werden. Einige private Initiativen haben dies erkannt und bemühen sich um eine qualitative Verbesserung der politischen Debattenkultur.

von Erik Thyselius

Erik Thyselius begann nach seinem Studium der Politikwissenschaft und Journalistik an der Uppsala Universität und einem halbjährigen Praktikum bei „Schweden Aktuell“ eine journalistische Karriere u.a. beim Think-tank Timbro. Danach schrieb er Leitartikel für verschiedene Zeitungen, u.a Smålandsposten, Barometern-OT und Svenska Dagbladet. Seit 2018 arbeitet er bei Axxess Publishing als Journalist und Fernsehmoderator für das Programm "Panelen".

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