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Warum die Schweden (noch) zur Coronapolitik der Regierung stehen


Trotz über 4000 Toten hält sich die interne Kritik in Grenzen.


Von Sebastian Eklund


Chefvirologe Anders Tegnell bei einer der täglichen Pressinformationen
Anders Tegnell bei einer der täglichen Pressinformationen, Foto: Frankie Fouganthin

Ein zynisches Experiment mit dem Leben der Bürger oder ein wissenschaftlicher Ansatz, der sie wie Erwachsene behandelt? Die Meinungen über Schwedens Umgang mit der Coronakrise sind zahlreich und oft extrem. Ebenso extrem ist der Unterschied zwischen den Maßnahmen in Schweden und in anderen europäischen Ländern, die das Privatleben ihrer Bevölkerung erheblich eingeschränkt haben um die Auswirkungen des Virus zu minimieren. Es ist sicherlich noch zu früh, um ein Urteil darüber zu fällen, was richtig oder falsch ist und welche Maßnahmen das Leiden an der Pandemie am besten minimieren. Nichtsdestotrotz wählt Schweden einen anderen Weg, mit der Situation umzugehen, und es könnte etwas Wichtiges daraus zu lernen geben. Wie gestaltet sich die Debatte eigentlich in Schweden selbst und worin liegt die Ursache davon, dass Schweden sich so einzigartig verhält?

Am fünften Mai publizierte die „New York Times“ einen Artikel mit dem Titel „Sweden stayed open. A deadly month shows the risks “(Englisch: Schweden blieb offen. Ein tödlicher Monat zeigt die Risiken). Indem man lesen kann, dass die Gesamtzahl der Todesfälle in Schweden dieses Jahr um fast 30 % angestiegen ist. Die totale Mortalität mit den Vorjahren zu vergleichen, ist eine Methode mit der versucht wird, die wahre Zahl der Coronaopfer abzuschätzen. Dieser Trend ist im Nachbarland Norwegen überhaupt nicht sichtbar. Auch der Rest Skandinaviens hat, wie auch Deutschland, einen sehr viel geringeren Anstieg der Todesfälle als Schweden. Darüber hinaus berichtete Reuters am neunzehnten Mai, dass Schweden die vorherigen sieben Tage die höchste Zahl an Coronatoten pro Kopf, in Europa, hatte. Auch in Sachen Testung hinkt Schweden hinterher. Es macht eindeutig den Eindruck, dass die schwedische Methode nicht so funktioniert hat, wie man es sich vorgestellt hat.

Das schwedische Modell

Die schwedische Regierung hat schon am Anfang der Krise erklärt, dass sie einen Schritt zurücktreten und die „Folkhälsomyndigheten (Schwedisch: Volkgesundheitsbehörde, Schwedische Gegenstück von Robert Koch Institut) entscheiden lassen werde, wie mit dem Ausbruch des Virus umzugehen sei. Der Gedanke war, dass das einen Ansatz sichern wird, der auf Wissenschaft und dem Wissen von Experten basiert. Das schwedische Modell, das auf Solidarität und Vertrauen in den Staat baut, hat in anderen Bereichen gut funktioniert. Zum Beispiel ist die schwedische Bevölkerung eine der am stärksten geimpften der Welt, obwohl die Impfung völlig freiwillig ist.

Die führende Persönlichkeit in Schwedens Kampf gegen Corona ist der Staatsepidemiologe, eine ärztliche Position im vorgenannten Gesundheitsamt mit der Aufgabe, die staatliche Reaktion auf Infektionskrankheiten zu koordinieren. Der derzeitige Staatsepidemiologe heißt Anders Tegnell. Der Vierundsechzigjjährige hat einen Ruf als Exzentriker und er hat zuvor für die WHO im Kampf gegen Ebola im Kongo gearbeitet. Die schwedischen Medien haben sich stark auf Tegnell konzentriert, und seine häufigen Auftritte im Fernsehen werden oft in bedeutenden Zeitungen zitiert. Er gibt der schwedischen Antwort auf die Pandemie ein Gesicht, ein Beamter, der die Bürger mit objektiv dargestellten Fakten und Statistiken, ohne Sensation oder Panik, beruhigt. Ziel ist es, die Kurve abzuflachen und die älteren Menschen zu schützen, aber nicht, wie häufig angenommen wird, eine Herdenimmunität zu erreichen. Die schwedische Coronavirus-Reaktion baut auf Freiwilligkeit und der Staat bietet nur Empfehlungen an, ist die Botschaft. Diese Empfehlungen sind jedoch, verglichen mit der Reaktion anderer europäischer Länder, eher zaghaft. Zum Beispiel wird den Bürgern überhaupt nicht empfohlen, Gesichtsmasken zu tragen, obwohl immer mehr Studien den Nutzen von Masken bestätigen.

Kritik am schwedischen System

Es gibt jedoch kritische Stimmen bezüglich des Verhaltens der Gesundheitsbehörden und der Botschaften von Anders Tegnell. Noch am 24. Mai ist seine Vorgängerin, Annika Linde, die unter der Schweinegrippe 2009 Staatsepidemiologin war, als Gegnerin des aktuellen Verfahrens herauskommen. Mitte Mai haben 22 medizinische Forscher ihre Kritik in der größten schwedischen Morgenzeitung, „Dagens Nyheter“ geäußert. Sie bestehen darauf, dass die Politiker in die Coronahandhabung eingreifen müssen, um eine Katastrophe zu verhindern. Folkhälsomyndigheten hat es versäumt, das Virus zu prognostizieren und Schweden darauf vorzubereiten, und mehrmals fälschlicherweise angenommen, dass es zurückgehen würde, schreiben sie weiter. Dazu haben mehrere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Kolumnisten die schwedische Methode heftig kritisiert. Yngve Gustafsson, Professor in Geriatrie, hat am 19. Mai in einem Interview, das ebenfalls in „Dagens Nyheter“ erschien, beschrieben wie ältere Menschen mit Corona die im Seniorheim wohnen, oft nur Palliativpflege bekommen. Das bedeutet, dass sie anstatt der üblichen Behandlung mit dem Beatmungsgerät eine Kombination von Medikamenten erhalten, mit dem Zweck das Leiden am Ende des Lebens zu minimieren. Diese Medikamente können aufgrund ihrer Wirkung auf das Lungensystem auch zu einem früheren Tod führen, sagt der Professor. Wegen das Infektionsrisikos gibt es ein Besuchsverbot für Coronapatienten, also sterben sie oft allein, dadurch haben die Angehörigen in diesen Prozess kaum Einblick.

Es birgt jedoch Risiken, die offizielle Methode offen zu kritisieren. Die Autorin und Journalistin Elizabeth Åsbrink hat gesagt, dass sie nach ihrem Artikel, der die unzulängliche schwedische Reaktion auf das Coronavirus als eine Folge von Jahrhunderten des Friedens mit wenigen Katastrophen erklärte, mit Hitler verglichen wurde. Eine der größten Kritikerinnen von Tegnell und Folkhälsomyndigheten, die ehemalige Virologin Lena Einhorn, wurde nach einer im Fernsehen übertragenen Debatte mit Tegnell wegen ihres Aussehens und ihrer Inneneinrichtung in den nationalen Medien lächerlich gemacht.

Ein Riss in der skandinavischen Einheit?

Auch die skandinavischen Nachbarländer blicken kritisch auf Schwedens Versagen bei der Eindämmung des Virus. Ein deutliches Zeichen dafür, ist dass die Dänen ihre Grenzen wieder für Norweger und Deutsche öffnen wollen, aber nicht für Schweden. Ähnliche Gedanken sind auch in Finnland verbreitet. Trotz der Kritik stehen die Schweden hinter ihrem System. In einem BBC-Interview am 18. Mai verteidigte Anders Tegnell seine Strategie und deutete an, dass den 22 Forschern, die ihn zuvor kritisiert haben, die relevanten Qualifikationen fehlen. Er gibt darin zu, dass die Zahl der Todesopfer höher ist, als er erwartet hatte, erklärt dies aber mit einer großen Verbreitung in den Pflegeeinrichtungen. Desweitern sagt er, dass man in Schweden das Gesamtbild abwägt, also das Virus sowie auch andere Aspekte der Volkgesundheit, zum Beispiel die Gesundheitsrisiken der Einsamkeit. Nach Monaten mit dem Virus und mehr als 4000 bestätigen Todesopfern ist das Urteil der Schweden klar, Folkhälsomyndigheten hat weiterhin das Vertrauen der Bevölkerung. Es stieg sogar auf von etwa 50 bis zu 70 Prozent, die sagen, dass das Amt die Krise gut bewältigt.

In der Diskussion über Maßnahmen gegen Corona wird oft betont, dass wir noch nicht genug wissen und dass die Daten für irgendwelche Schlussfolgerungen unvollständig sind. Diese Denkweise ist besonders verbreitet in Schweden, wo den Menschen gesagt wird, dass sie sich auf ein langfristiges Leben mit dem Virus vorbereiten sollen. Und auch Schweden ist unter der Pandemie anders, trotz der Abwesenheit von Gesichtsmaske und Kontaktverbot. Senioren haben sich in großer Zahl in Quarantäne begeben, Universitäten unterrichten online und die jährlichen Osterreisen gingen um 90 Prozent zurück. Trotzdem wird es jeden Tag schwerer für Tegnell und Mitarbeiter bei Folkhälsomyndigheten zu erklären, warum die Mortalität in Schweden so hoch ist.

Warum geht Schweden gegen den Strom?

Eine häufige Annahme ist, dass die einheimische Kritik so geringfügig ist, weil die schwedische Kultur Konsens und Vertrauen in den Staat stark betont. Dieses Phänomen wurde bereits früher hier bei Skandinavia.de beschrieben. Das Gefühl, dass es einen Konsens gibt, kann auch dazu dienen, die negativen psychischen Folgen einer Pandemie zu minimieren. In schwierigen Zeiten ist es beruhigend, wenn alle einer Meinung sind. Laut einer Studie der OECD aus dem Jahr 2013 ist Schweden das europäische Land mit dem zweithöchsten Vertrauen in die Regierung und die politischen Parteien, wobei nur Luxemburg besser abschneidet. Historisch gesehen gibt es einen bekannten Effekt, bei dem die Unterstützung für die derzeitige Führung in Krisenzeiten, wie einer Pandemie, stark zunimmt. Sowohl Angela Merkel als der schwedischer Premier Stefan Löfven haben während der Krise stark steigende Umfragezahlen bekommen. In Schweden, wo die Bevölkerung schon zuvor umfassendes Vertrauen in den Staat hatte, könnte dies erklären, warum der Umgang mit der Krise von den Bürgern so wenig kritisiert wird.

Warum also fühlen sich die Schweden so sicher in ihrer Führung? Schweden hat es geschafft, sich aus zwei Weltkriegen und dem damit verbundenen politischen Extremismus herauszuhalten. Auch die Bedrohung während des Kalten Krieges, in dem Schweden aufgrund seiner geographischen Lage eine wichtige Rolle spielte, hat glücklich geendet. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gibt es in Schweden wenig kollektive Erinnerung an staatliche Unterdrückung. Das starke Sozialsystem hat die Sicht auf den Staat als gut und fürsorglich weiter unterstrichen. Es gibt auch diejenigen, die von einem schwedischen Überlegenheitsgefühl sprechen. Aufgrund der schwedischen Erfolge in Bereichen wie Sozialhilfesystem, Klima und Gleichberechtigung ebenso wie ihrer Geschichte, sind sie vielleicht nicht immer daran interessiert, sich anzusehen, wie andere Länder etwas tun.

Obwohl die Schweden ihrem Staat sehr vertrauen, gibt es natürlich auch für sie eine Grenze. Wenn die Todesopfer nicht mehr erträglich sind, werden die Bürger vermutlich heftig Protestieren. Aber so weit sind wir noch nicht. Bis weiter glauben die meisten Schweden, dass das, was derzeit getan wird, das Beste für das Land ist. Vielleicht haben auch Tegnell und Folkhälsomyndigheten recht und die Mortalität in den Ländern mit strengeren Maßnahmen wird auf das Niveau Schwedens ansteigen, da die Beschränkungen notwendigerweise gelockert werden müssen. Auf jeden Fall werden sowohl Schweden als auch der Rest der Welt noch lange Zeit mit den Auswirkungen dieser Katastrophe zu kämpfen haben.

Quellen

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